Autorenartikel von Thomas Loer
(Autorenartikel geben nicht die Meinung der Redaktion bzw. der AG Objektive Hermeneutik e.V. wieder, sondern werden von den Autoren selbst verantwortet.)
(s. auch: https://oh-meth.blogspot.com/2018/11/lesarten-terminologie.html)
In der Objektiven Hermeneutik werden Lesarten u. a. danach unterschieden, in welchem Verhältnis sie zur zu analysierenden Ausdrucksgestalt stehen. Die erste (I) Unterscheidung ist diejenige danach, ob sie mit der Ausdrucksgestalt (a) kompatibel sind oder (b) nicht. Dabei können die Lesarten, die nicht mit der Ausdrucksgestalt kompatibel sind, – wenn sie im Zuge der Interpretation überhaupt auftauchen – relativ rasch ausgeschieden werden.
ad Ib
Beim zu analysierenden Protokoll handelt es sich um eine Videoaufzeichnung, die ein fahrendes Auto zeigt, in dem ein Mann zu erkennen ist, der die Hände am Steuer hat.*) Mit der Ausdrucksgestalt nicht kompatibel ist etwa die Lesart, es handele sich in Wirklichkeit um einen Mann in der Badewanne; diese kann einfach ausgeschlossen werden. Dass solche Lesarten überhaupt auftauchen, kann an einer ideosynkratischen Assoziation liegen, die als ideosynkratische und als bloße, in individuell besonderer Erfahrung fundierte Assoziation objektive Geltung nicht beanspruchen kann.
Die zweite (II) Unterscheidung ist diejenige danach, ob die Lesart von der Ausdrucksgestalt (a) „erzwungen“ ist oder (b) nicht. Dabei sind diejenigen Lesarten, die mit der Ausdrucksgestalt kompatibel, aber nicht von ihr „erzwungen“ sind, für die Analyse problematisch.
Ulrich Oevermann schreibt hierzu:
„Schwieriger ist demgegenüber der Umgang mit Lesarten, die zwar mit einer zu analysierenden Ausdrucksgestalt kompatibel sind, aber von dieser nicht im Sinne einer lückenlosen Ableitung von deren immanenten Markierungen erzwungen sind. Diese Lesarten, für die gilt, dass sie der ‚Fall sein können, aber nicht sein müssen‘, sind im Sinne des schon genannten Wörtlichkeitsprinzips unbedingt zu vermeiden, denn sie ‚vermüllen‘ die Analyse so wie degenerative Zusatzhypothesen eine Erklärung nur trüben. Diese Unterscheidung von zwar kompatiblen, aber nicht zwingenden Deutungen von solchen, die sich aus den Eigenschaften der Ausdrucksgestalt zwingend ableiten lassen, so dass für sie entweder gilt, dass sie nicht der Fall sein können, oder noch besser: der Fall sein müssen, ist außerordentlich wichtig und schwieriger zu realisieren als das Urteil über die Kompatibilität einer Lesart mit der gegebenen Ausdrucksgestalt. Die Beachtung dieser Unterscheidung ist für die Erklärungskraft der Analysen aber entscheidend und ermöglicht erst eine strikte Falsifikation.“**)
ad Ia/IIb
Nehmen wir unser obiges Beispiel, so wäre die Lesart: „Im Auto sitzt ein Affe im Fußraum, der das Auto eigentlich steuert“, mit der Ausdrucksgestalt kompatibel (Ia), aber nicht von ihr „erzwungen“.
Nun ist die Rede von „erzwungenen“ bzw. „nicht erzwungenen“ Lesarten m.E. irreführend, legt sie doch nahe, man könne gar nicht umhin, diese Lesarten zu bilden. Die von Oevermann verwendete Terminologie hängt zusammen mit der im zitierten Text auch zu findenden Rede von „zwingenden Deutungen“. Dass eine Deutung zwingend ist, ist aber eine Feststellung, die nach dem Vorbringen dieser Deutung am Text geprüft wird, und sagt nichts darüber aus, woher diese Deutung stammt – ob die Ausdrucksgestalt sie etwa „erzwungen“ hat.
Wenn wir stattdessen Lesarten danach unterscheiden, ob sie von der Ausdrucksgestalt indiziert sind oder nicht, können wir die irreführende Rede vermeiden.
ad Ia/IIa
Die vom Protokoll indizierte Lesart ist diejenige: „Der Mann steuert das Auto.“
Eine Indikation ist von der Ausdrucksgestalt her zu denken: Die Ausdrucksgestalt zeigt etwas an, was dann „sich aus den Eigenschaften der Ausdrucksgestalt zwingend ableiten“ lässt. Bloße Assoziationen sind hingegen der Ausdrucksgestalt unterlegt, und nicht von ihr angezeigt. – Das teilt der Terminus „indiziert“ mit dem Terminus „erzwungen“.
Aber: Was der Text anzeigt, muss vom Interpreten erst entdeckt, aufgedeckt werden. – Das unterscheidet den Terminus „indiziert“ vom Terminus „erzwungen“.
Insofern schlage ich vor, für die Unterscheidung von Lesarten neben der Rede davon, ob sie mit der Ausdrucksgestalt kompatibel sind, die Formulierung zu verwenden, ob sie von der Ausdrucksgestalt indiziert sind.
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*) Ich benutze ein von Ulrich Oevermann in Lehrveranstaltungen oft verwendetes Beispiel.
**) Oevermann, Ulrich (2013): Objektive Hermeneutik als Methodologie der Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt. In: Langer, Phil C.; Kühner, Angela; Schweder, Panja (ed.), Reflexive Wissensproduktion. Anregungen zu einem kritischen Methodenverständnis in qualitativer Forschung, Wiesbaden: Springer Fachmedien, 69-98; hier 96 f.
Für die in Autorenartikeln vorgetragenen Argumentationen und die dort vertretene Position liegt die Verantwortung allein beim Autor.