Routine und Krise in der akademischen Soziologie

Autorenartikel von Manuel Franzmann und Claudia Scheid

Folgender Text kommentiert Themenwahl und Rahmenpapier des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie „Routinen der Krise – Krise der Routinen“, Universität Trier, 6.-10. Oktober 2014. Er baut auf einem Exposé für eine Ad-hoc-Gruppe auf, die mangels Interesse seitens der DGS nicht zustande kam.

„Googelt“ man nach dem Begriffspaar „Krise und Routine“, verweisen die ersten zehn Suchergebnisse alle (und mit ihnen viele weitere) auf das Werk von Ulrich Oevermann (Stand 15.3.2014). Zufällig ist dies nicht, es resultiert aus der jahrzehntelangen „systematischen Arbeit am Krisenbegriff“ (aus dem Themenpapier des Kongresses), eine Arbeit, die schließlich sogar in einer explizit „krisentheoretischen Begründung der Soziologie“ kulminierte. Trotzdem wird in dem Themenpapier des Kongresses gesagt, dass die Arbeit am Krisenbegriff „in der Soziologie (…) noch weitgehend aussteht“. Ein Hinweis auf Oevermanns Werk erfolgt nicht, und sei es nur im Sinne des Anführens einer rühmlichen Ausnahme.

Dies im Zusammenhang mit der spezifischen Lesart von Klassikern des Fachs betrachtet, wie sie in dem Themenpapier präsentiert wird, stellt sich die Frage, inwieweit sich die aktuell sprachmächtige Soziologie in einer Krise insofern befindet, als sie sich von zentralen klassischen Einsichten zu einer Theorie des Sozialen als einer Theorie der Entstehung von Neuem, letztlich einer krisentheoretisch fundierten Theorie des Sozialen, entfernt hat. Anders als das Rahmenpapier nahe legt, sind die Beiträge von Marx und Weber ja nicht zentral „Krisendiagnosen“, so heißt es dort, – auch wenn solche als Szenarien sicher enthalten sind –, sondern sie sind vor allem Theorien des Wandels bzw. der Entstehung von Neuem.

Das Rahmenpapier fokussiert darüber hinaus durchgängig ausschließlich praktische Krisen, die mit Handlungs- und Problemdruck verbunden sind. „Krisen durch Muße“ (Oevermann), welche sich selbstbestimmt durch handlungsentlastete, neugierige Beschäftigung mit einem Gegenstand um seiner selbst willen, also jenseits praktischer Zwecksetzungen und Nutzenerwartungen, ergeben, finden überhaupt gar keine Erwähnung (ebenso wenig Krisen von einem glückshaft-positiven Charakter). Dabei liegt in der Kultivierung solcher Krisen nicht nur ein ganz entscheidender Zug der Moderne, der auch für Wissenschaft zentral ist. In ihnen kommt zudem der „erkenntnistheoretische“ Kern von Krisen sozusagen zu sich selbst und besonders deutlich zum Vorschein (der Zusammenbruch bisheriger Wahrnehmungsroutinen). Der unseres Erachtens gegebenen Nicht-Ausschöpfung der Klassiker für eine Theorie der Krise – Autoren wie Freud, Mead, Adorno werden auch nicht herangezogen – sowie das Nicht-Aufgreifen einer schon geleisteten Explikation, die auf den Begriffen der „Krise“ und „Routine“ aufbaut, entspricht, so erscheint es uns, eine weniger intensive Beschäftigung in der Soziologie mit sozialisations-, bildungs-, ästhetik- und subjekttheoretischen Fragen, wie sie gerade von den zuletzt genannten Autoren ins Zentrum gerückt wurden.

Im Anschluss an diese, das Rahmenpapier des DGS-Kongresses nur als Ausgangspunkt nehmende Diskussion, die auf die Verfasstheit der Soziologie insgesamt sich bezieht, können mehrere Fragen formuliert werden, zum Beispiel diejenige der Genese: Hat der verstärkte gesellschaftliche Druck auf die Wissenschaften, im Sinne einer Praxisberatung zu funktionieren, die Soziologie zur Anpassung gezwungen und dazu gedrängt, sich den Krisenbegriff der Praxis als relevanten Bezugspunkt zu verordnen? Kaum zu leugnen ist, dass sich die organisierte Soziologie, im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft, viele Jahre (im Unterschied zu heute!) gegen die für die Praxis wissenschaftlichen Handelns (für welche „Krisen durch Muße“ das Zentrum bilden) in vielerlei Hinsicht zerstörerischen Folgen der epochalen Hochschulreformen kaum zur Wehr gesetzt hat. Hat man zudem durch eine Konzentration auf Themen, die letztlich durch (ordnungs-)politische Diskurse vorgegeben wurden (z. B. Bildungschancengerechtigkeit, Aktivierung von Langzeitarbeitslosen), innovatives Potenzial verloren?

Wünschenswert sind solche grundlegende Reflexionen und kontroverse Diskussionen bezüglich der gegenwärtigen Verfasstheit der Soziologie. Hoffentlich wird der kommende Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2014 diesbezüglich als sich bietende Gelegenheit genutzt.

Für die in Autorenartikeln vorgetragenen Argumentationen und die dort vertretene Position liegt die Verantwortung allein beim Autor.

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2 Gedanken zu „Routine und Krise in der akademischen Soziologie“

  1. Zur Ergänzung: Der Verweis auf Google-Suchergebnisse hat nicht etwa den Sinn, daran die sachliche Bedeutung der Oevermann’schen Soziologie zu bemessen. Vielmehr soll damit angedeutet werden, dass Oevermanns „systematische Arbeit am Krisenbegriff“ eigentlich gar nicht übersehen werden kann. Man muss sich ja fragen, wie es zu erklären ist, dass in dem Themenpapier angesichts seines Titels Oevermanns Krisentheorie weder namentlich noch der Sache nach Erwähnung findet. Schließlich handelt es sich nicht nur um den äußerst seltenen Fall einer elaborierten soziologischen Krisentheorie. Es kommt noch verschärfend hinzu, dass es sich sogar um die einzige explizit „krisentheoretische Begründung der Soziologie“ insgesamt handelt. Wie kann man eine solche Position bei dieser Themenwahl ignorieren? Ein erster Erklärungsversuch könnte darin bestehen zu mutmaßen, dass den Verfassern die Position schlicht nicht bekannt war. Nobody is perfect. Das scheidet aber als Erklärung schnell aus, denn sollten die Verfasser in der unangenehmen Lage gewesen sein, ein solches Themenpapier schreiben zu müssen, obwohl sie sich faktisch nicht gut auskannten, welche Positionen es in der Soziologie dazu gibt, so hätten sie selbst bei einer Kurzrecherche sofort auf Oevermanns krisentheoretische Arbeiten stoßen müssen, die bestens aufzufinden sind. Ja bei Eingabe des Begriffspaars Krise und Routine, um das sich der Kongresstitel dreht, bei der Suchmaschine Google verweisen fast alle Einträge auf Oevermanns Werk. Man kann es selbst an diesem überfachlichen Ort, der für schnelle Kurzrecherchen einschlägig ist, nicht übersehen. Abgesehen davon, dürfte ein solches Themenpapier in der DGS wohl auch durch mehrere Hände wandern, bevor es das Licht der Öffentlichkeit erblickt, und Oevermann hat nicht nur eine größere Zahl von Aufsätzen zur Krisentheorie veröffentlicht, die gut zugänglich und breit gestreut sind. Er hat sogar beim Jubiläumssoziologentag 2010 in Frankfurt am Main in einer großen, gut besuchten Sonderplenarveranstaltung vor mehreren hundert Zuhörern einen Vortrag gehalten, in dessen Titel sogar Krise und Routine schon als Begriffe vorkommen. Die Veranstaltung war bestens besucht, auch viele Leute aus dem Führungskreis der DGS waren anwesend. Es liegt vor diesem Hintergrund sogar die Frage nahe, ob dieser Vortrag faktisch eine Anregung zum diesjährigen Kongressthema gegeben hat.

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